Finanzen und Volkswirtschaftslehre werden oft als „weiche“ Wissenschaften betrachtet. Weich, weil sie, anders als Naturwissenschaften, nicht auf unveränderlichen Gesetzen beruhen. Wasser friert bei 0 Grad Celsius und kocht bei 100 – ein physikalisches Gesetz, an dem es nichts zu rütteln gibt.
Volkswirtschaften und Finanzmärkte bestehen aus Menschen, die Entscheidungen treffen. Manchmal sind diese Entscheidungen rational, häufig aber nicht. Weil feste Regeln und Gesetze fehlen, kommt es häufig zu Fehlschlüssen und Irrtümern, weil Menschen anhand von Beobachtungen und Mustern Schlüsse zu Ursache und Wirkung ziehen und dabei manchmal Korrelationen mit Zufällen verwechseln. Bedauerlicherweise entstehen dadurch häufig finanzielle Verluste. Und dann suchen die Menschen jemanden oder etwas, dem sie die Schuld dafür geben können.
Des Teufels List
Um herauszufinden, wann der maximale Leitzins der Zentralbanken seinen Höhepunkt erreichen wird, wurde viel Zeit und Papier verschwendet. Zurzeit ist man sich weitgehend einig, dass der Höhepunkt bald bevorsteht.
Ob die Geldpolitik tatsächlich vor einer Wende steht oder nicht, scheint eine wichtige Frage zu sein. Ist es aber nicht. Es ist eine Täuschung.
Der Markt gleicht einer teuflischen Bestie, die Investoren dazu verleiten will, Fehler zu machen. Sie lenkt sie davon ab, was wirklich wichtig ist. Und seit Jahrzehnten gelingt es ihr, Menschen ihre Ersparnisse abzunehmen.
Ob die US Federal Reserve ihren Leitzins um weitere 25 oder 50 Basispunkte anhebt oder gegen Ende dieses Jahres um 50 oder 75 Basispunkte senkt, worauf der Treasury-Markt schließen lässt, ist nicht wichtig. Wirtschaft und Unternehmensfundamentaldaten haben bereits Schaden genommen. 2022 sind die Kapitalkosten so schnell gestiegen wie seit 40 Jahren nicht mehr. Da die US-Wirtschaft größtenteils festverzinslich finanziert ist, können wir nun nur abwarten, wie sich das auswirkt.
Ein Maßstab für diese Auswirkungen sind die Konkursmeldungen. Seit Jahresanfang haben 74 US-Unternehmen mit Schulden von über 50 Millionen US-Dollar Konkurs angemeldet. Aufs Jahr gerechnet sind das mehr als während des COVID-Lockdowns 2020, als das US-Bruttoinlandsprodukt um fast ein Fünftel einbrach.
Die Gründe der meisten Unternehmen, Fremdkapital aufzunehmen, sind vielfältig (z.B. Steueroptimierung, Gewinnerhöhung oder Diversifikation der Kapitalquellen). Entscheidend ist die Höhe der Schulden. Die bis vor Kurzem niedrigen Kapitalkosten haben Unternehmen dazu verleitet, sich so stark zu verschulden wie selten zuvor. Heute sind die Kapitalkosten beträchtlich höher und werden die Rentabilität vieler Unternehmen sehr stark belasten. Einige der jüngsten Unternehmensberichte belegen dies bereits.
Das große Ganze
Der Markt rechnet damit, dass die Fed Funds Rate noch in diesem Jahr zurückgeht. Aber das ändert nichts an der steigenden Zahl von Konkursen und an niedrigeren Kapitalerträgen. Hinzu kommt, dass der größte Kostenfaktor der meisten Unternehmen die menschliche Arbeitskraft ist, und angesichts der seit Jahrzehnten niedrigen Arbeitslosenzahlen in den USA und im Euroraum ändert sich das offenbar auch nicht.
Leitzinshöhepunkte oder andere gute oder schlechte Schlagzeilen lenken häufig vom Wesentlichen ab. Natürlich sind sie wichtige oder wertvolle Informationen, aber eben nur kleine Teile eines viel größeren Ganzen. Das Wichtigste für Finanzwerte sind die künftigen Cashflows, also die Gewinne. Ich denke, dem Markt steht eine Enttäuschung bevor. Das gilt zumindest für Aktien und Anleihen von Unternehmen, die ihre Margen in der Niedrigzinsphase und dank geringer Lohnkosten in die Höhe treiben konnten. Und meiner Meinung nach wird das die Welt der aktiv gemanagten Portfolios auf Jahre von Grund auf verändern, weil sich in einem für Unternehmen schwierigeren Umfeld die Spreu vom Weizen trennt.
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Foto: Robert M. Almeida, Jr. © MFS Investment Management
Die Märkte werden abgelenkt
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