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Energieinflation entspricht etwa 100 Basispunkten an Zinserhöhungen

von Peter De Coensel, Member of the Management Board bei Degroof Petercam Asset Management (DPAM)

Die Zentralbanken der Industrieländer stehen vor dem Problem eines ‚gordischen Knotens‘. Werden - oder besser noch - können sie angesichts des stockenden Realwachstums, der schlecht funktionierenden Arbeitsmärkte und der anhaltenden hohen Inflationswerte entschlossene politische Maßnahmen ergreifen? Die globalen Anleihenmärkte verlieren die Geduld und preisen die Anhebung der Leitzinsen nun schon im Jahr 2022 ein. Verfrüht oder nicht?

Nimmt man die jüngsten Daten aus China und den USA als Richtschnur, so ist das weltweite Realwachstum im dritten Quartal auf annualisierte 3,2% gesunken. Das ist weit entfernt von den Schätzungen von fast 6% für 2021, die Ende des zweiten Quartals oder noch vor ein paar Wochen während der IWF-Tagung in Washington DC kursierten. Die Erwartungen kristallisieren sich auf ein globales Realwachstum im vierten Quartal von 4,5% auf Jahresbasis heraus. Die Engpässe in den Lieferketten sind hartnäckiger als erwartet. Die wichtigsten Indikatoren, die es zu beobachten gilt, sind die Lieferzeiten im verarbeitenden Gewerbe und die Erzeugerpreisindizes. Der von der Philadelphia Federal Reserve Bank herausgegebene ‚Business Outlook Survey Diffusion Index on Delivery Times‘ liegt bei 32,2, was ein Allzeithoch seit Mai 1968 darstellt. Die Erzeugerpreisindizes in den USA, China und der EU verzeichnen auf Jahressicht einen Anstieg von 11,8%, 10,7% und 13,4%. Den Unternehmen wird nichts anderes übrigbleiben, als ihre Kunden mit verlängerten Lieferzeiten, einer teilweisen Weitergabe der höheren Produktionskosten oder einer Mischung aus beidem zu konfrontieren. In einer Gesellschaft, die sich an die Lieferung am nächsten Tag über E-Commerce-Plattformen gewöhnt hat, stellt sich die Frage, ob wir den Höhepunkt der Inflation bereits gesehen haben? Nichtsdestotrotz scheint die Erholung der globalen Produktion auf das Niveau vor der Covid-Krise mehr Zeit in Anspruch zu nehmen, bis weit in das Jahr 2023 hinein. Hinsichtlich des Narrativs von Problemen beim Nachholbedarf haben wir möglicherweise den Knopf für den Schnellvorlauf zur Dämpfung der Nachfrage gedrückt. Die akute Verknappung auf den Energiemärkten wirkt sich auf die ‚Terms of Trade‘, die Angebots- und Nachfragebedingungen sowie das globale Produktionspotenzial aus. Da Energiekosten einen immer größeren Anteil an der weltweiten Bruttowertschöpfung ausmachen, werden Ersparnisse, Investitionen und andere Verbrauchskategorien einen Rückgang erleben.

Während ich vor ein paar Wochen noch eine Wahrscheinlichkeit von 20% für ein Stagflationsszenario angesetzt hatte, bin ich hiervon mittlerweile nicht mehr so überzeugt. Die Märkte könnten sich zunehmend auf eine Stagflation im Jahr 2022 einstellen. Ein Grund zur Sorge sind die Aussichten für das Wachstum in den Schwellenländern im kommenden Jahr. Die Zentralbanken der Emerging Markets verschärfen die Straffung der Leitzinsen. Russland, Brasilien, die osteuropäischen Staaten, Chile und andere Länder passen die Leitzinsen aggressiv an, um Preissteigerungen einzudämmen und die Inflationserwartungen wieder zu stabilisieren. Brasilien sticht hervor: Die Zentralbank bereitet sich darauf vor, die Zinsen in dieser Woche um 125 Basispunkte oder mehr zu erhöhen, da die Inflation auf über 10% ansteigt und die Regierung Bolsonaro gleichzeitig die Haushaltsbeschränkungen lockert. Der brasilianische Präsident will seine Chancen für eine Wiederwahl verbessern. Die Konsenszahlen für das reale BIP-Wachstum Brasiliens im Jahr 2022 sind auf schwache 1,00% gesunken. Eine Inversion der Renditekurve in Landeswährung ist durchaus möglich. Der IWF prognostiziert für das Jahr 2022 ein weltweites reales BIP-Wachstum von 4,9%. Sowohl die Volkswirtschaften der Industrieländer als auch die der Schwellenländer werden sich verbessern müssen, um dieses Ziel zu erreichen.

Auch die Arbeitsmärkte stehen vor großen Herausforderungen. Die Erwerbsquoten stehen vor erheblichen Erholungsproblemen. Die Diskrepanz zwischen Angebot und Nachfrage weist infolge der pandemiebedingten Regierungspolitik Bruchlinien auf. Nach Angaben des ‚Bureau of Labour Statistics (BLS)‘ nehmen die Kündigungen in vielen Branchen zu. Hierzu tragen die von den Regierungen an Privathaushalte ausgestellten Pandemie-Schecks, Mieterhöhungsstopps oder die Erlassung von Studienkrediten bei. Man denke nur an die Engpässe im Freizeit- und Gastgewerbe, aber auch an den Mangel an LKW-Fahrern oder Arbeitskräften im Gesundheitswesen. Infolgedessen steigen die Löhne in den unteren Einkommensgruppen so schnell wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Die Pandemie hat die Art und Weise verändert, wie Menschen die Arbeit wahrnehmen. Flexible Arbeitsmodelle sind eine Antwort auf die Forderung nach einer besseren Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Der derzeitige Rückgang der Erwerbsbeteiligung könnte also nur vorübergehend sein. Vielleicht wurde der Begriff „vorübergehend“ fälschlicherweise mit Inflation in Verbindung gebracht und hätte eher in Bezug auf den aktuellen Mangel an Arbeitskräften gelten sollen.

Damit kommen wir zu einer weiteren Unbekannten, mit der die Zentralbanken der Industrieländer konfrontiert sind, und zwar der künftige Inflationspfad. Die marktbasierten Inflationserwartungen in den USA geben eine klare Antwort – die allerdings zweigeteilt ist: Die US-Inflation könnte längerfristig höher ausfallen und die realen US-Renditen werden für eine längere Zeit stark negativ sein. Die 10-jährigen US-Inflationserwartungen beendeten den letzten Freitag (24.10.21) bei 2,64%. Der höchste Stand der 10-jährigen Breakeven-Inflationsrate wurde im März 2005 mit 2,71% erreicht. Der US-TIPS-Markt besteht seit 1997. Die 2-Jahres-Inflationserwartungen in den USA schlossen bei 3,07%, was einer 2-Jahres-Realrendite von -2,51% gegenüber einer Nominalrendite von +0,56% (Januar 2024) entspricht. Die 10-jährigen Realrenditen schlossen bei -1,00%, was einem Rückgang um 11 Basispunkte seit der FED-Sitzung vom 22. September entspricht. Die 10-jährigen nominalen Renditen stiegen seither um 34 Basispunkte (d.h. von 1,30% auf 1,64%). Die 30-jährigen Inflationserwartungen lagen bei 2,41%. Der Vergleich mit 2004/2005 zeigt einen interessanten Unterschied, denn damals lag der Höchststand bei 3,00%! Dies sollte den Offenmarktausschuss der US-Notenbank (FOMC) bei seiner Sitzung am 3. November beruhigen. Zu erwarten ist die Ankündigung eines kontingentbasierten Taperings. In der vergangenen Woche dämpfte US-Notenbank-Präsident Powell die steigenden Erwartungen einer Leitzinsanpassung bereits im Sommer 2022. Der Balanceakt für die Zentralbanken der Industrieländer ist gewaltig. Die Energieinflation verschärft die wirtschaftlichen Bedingungen. Beobachter gehen davon aus, dass diese Realität etwa 100 Basispunkten an Zinserhöhungen entspricht. In der Eurozone wird die EZB das Risiko im März 2022 durch die Ankündigung einer allmählichen Reduzierung der monatlichen PEPP-Käufe auf das vorpandemische Niveau von 20 Mrd. Euro pro Monat steuern bzw. reduzieren. Eine vorzeitige Rückkehr zu einem Einlagensatz von 0,00% im Jahr 2023 ist wahrscheinlich, da dies die Kosten für den Bankensektor begrenzen und potenzielle Gefahren an den Immobilien- und Aktienmärkten auf dem Weg dorthin entschärfen würde.

Man kann zu dem Schluss kommen, dass sich die nominalen Renditekurven der entwickelten Staaten aufgrund widersprüchlicher Botschaften in den Bereichen Realwachstum, Arbeitsmärkte und Erzeuger- bzw. Verbraucherinflation abflachen. Wir befinden uns in einer Phase, die sensibel auf politische Fehler anspricht. Wer die Märkte aufmerksam verfolgt, stellt fest, dass die implizite Volatilität der Renditen steigt. Der ‚Merrill Lynch Option Volatility Estimate (MOVE-Index)‘, der auf der impliziten Volatilität von 1-Monats-Treasury-Optionen über die gesamte US-Renditekurve basiert, ist auf 72 gestiegen. Der langfristige Durchschnitt liegt bei 92. Die Angst vor steigenden Renditen nimmt zu. Da aber dieser Index sowohl Kauf- als auch Verkaufsoptionen umfasst, kann die Entwicklung in beide Richtungen gehen. Tatsache ist, dass die Nervosität an den Anleihenmärkten zunimmt.

Gleichzeitig schloss der VIX-Index als wichtigster Angstindikator für Aktien bei 15,43 und damit deutlich unter seinem längerfristigen Durchschnittswert von 19,6. Die Aktienmärkte erfreuen sich einer weiteren überdurchschnittlichen Gewinnsaison. Die Unternehmen haben sich langfristige Finanzierungen auf historisch niedrigem Niveau gesichert. Wie bei den Regierungen werden sich die Auswirkungen steigender Zinsen auf das Profil der Verschuldungskosten der Unternehmen erst im Laufe eines kompletten Zins- und Kreditzyklus bemerkbar machen. Beides muss erst noch beginnen.

Die Notenbanken der Industrieländer bevorzugen eine gut geführte, langfristige Normalisierung der Leitzinsen. Plötzliches und hektisches politisches Verhalten, wie es im geldpolitischen Komitee der Bank of England zu beobachten ist, sollte vermieden werden. Ein aggressives Durchtrennen des ‚gordischen Knotens‘ könnte die wirtschaftliche Erholung zu früh in Richtung rezessionsähnlicher Herausforderungen lenken.

www.fixed-income.org
Foto: Peter De Coensel
© Degroof Petercam Asset Management (DPAM)


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