Sieht man einmal von den europäischen Peripherieländern ab, so liegen die Renditen von Staatsanleihen nahe ihren Allzeittiefständen. In Deutschland sind die Renditen auf das Niveau zurückgekehrt, das im vergangenen Jahr während der ersten Auflage der Euro-Krise verzeichnet wurde, in den USA entsprechen die Treasury-Renditen denjenigen während der Weltwirtschaftskrise und in Großbritannien sind die GILT-Renditen so niedrig wie seit 200 Jahren nicht mehr. Diese bemerkenswerte Entwicklung ist auf systemische Befürchtungen und Besorgnis über das künftige Wachstum zurückzuführen.
Manche Beobachter sind noch immer der Auffassung, dass die bisher einmalig lockere Geldpolitik zu beträchtlichen Inflationsrisiken (und höheren Renditen von Staatsanleihen) führen werde oder dass es wegen der hohen Beanspruchung der öffentlichen Finanzen kurzfristig zu Befürchtungen im Bezug auf Zahlungsfähigkeit kommen könne (was die Renditen von Staatsanleihen ebenfalls nach oben treiben würde). Die jüngsten Entwicklungen an den Märkten sollten ihnen jedoch deutlich vor Augen führen, dass sie sich in Bezug auf die treibenden Kräfte an den Märkten geirrt haben. Einige von ihnen werden wohl argumentieren, dass die Renditen wegen der Besorgnis über die Inflationsentwicklung und/oder die Zahlungsfähigkeit zu einem späteren Zeitpunkt ansteigen werden und dass sich die Märkte lediglich vorübergehend irrational verhalten.
Die meisten Fiskalpolitiker scheinen ganz eindeutig diese Auffassung zu vertreten, denn die europäischen Kernländer, Großbritannien und die USA bereiten sich auf umfangreiche fiskalpolitischen Einschnitte vor, um die öffentlichen Finanzen zu verbessern, bevor die Märkte ihre Meinung ändern und höhere Risikoprämien von den Staaten verlangen, die sich derzeit zu rekordniedrigen Zinsen verschulden können.
Zumindest lässt sich das derzeitige Verhalten der Fiskalpolitiker kaum anders deuten. Wenn der Markt beim derzeitigen Preisniveau völlig rational agierte, könnten die politischen Verantwortungsträger das derzeit niedrige Niveau der Anleiherenditen als Beweis für das Vertrauen in ihre langfristige Glaubwürdigkeit ansehen. In diesem Fall wäre es rational, wenn die Politiker die niedrigsten je gesehenen Finanzierungskosten nutzten, um die Endnachfrage zu stimulieren – zumal ihre Volkswirtschaften wieder am Rand einer Rezession stehen. Nicht zuletzt (aber sicherlich nicht nur), weil eine neue Rezession nur zu einer Verschlechterung der Staatsfinanzen und nicht zu ihrer Verbesserung führen würde.
Dementsprechend verhält sich der Markt in den Augen der Fiskalpolitiker irrational. Diese verfolgen in den kommenden beiden Jahren einen aggressiven Sparkurs, um zu vermeiden, dass sie von sehr viel höheren Finanzierungskosten in Mitleidenschaft gezogen werden, wenn die Märkte wieder vernünftig handeln. Nur: Wenn der Markt derzeit bei der Preisfestsetzung irrational handelt, bietet sich doch eine einmalige Gelegenheit, diese fehlerhafte Einschätzung von Risiken auszunutzen. Ein rationaler Kreditnehmer würde erkennen, dass man von dieser Chance am besten profitieren kann, indem man eine vorübergehend höhere Kreditaufnahme zu irrational niedrigen Kosten mit glaubwürdigen Maßnahmen zur Senkung der künftig erwarteten Kreditaufnahme kombiniert. Letzteres könnten die Regierungen im Euroraum, in Großbritannien und den USA vor allem tun, indem sie die Finanzierungslücken für künftige Verbindlichkeiten im Rahmen der Renten- und Krankenversicherung verringern.
Bei diesem Ansatz würden die durchschnittlichen Kreditkosten kurz- und langfristig sinken, was schon für sich genommen die Aussichten für die Zahlungsfähigkeit der entsprechenden Regierung verbessern würde. Außerdem kann die kurzfristige, vorübergehende Verschuldung für fiskalpolitische Impulse für die Konjunktur verwendet werden, was eine erneute Rezession verhindern oder abmildern könnte. Das günstigere wirtschaftliche Umfeld und die Nutzung produktiver Ressourcen, die ansonsten brachlägen, dürften dazu beitragen, die negativen Auswirkungen der zusätzlichen Kreditaufnahme auf die staatlichen Finanzen abzufangen. Dies führt zu niedrigeren Ausgaben für die Arbeitslosenunterstützung und zu einem höheren Einkommen der Unternehmen und der privaten Haushalte, was die negativen Auswirkungen der Kreditaufnahme zu Stimulierungszwecken in den kommenden beiden Jahren dämpfen sollte.
Diese Argumentation zeigt, warum die derzeitige Reaktion der Fiskalpolitiker zur Bekämpfung der schlechten Haushaltslage und der zunehmenden Rezessionsrisiken Fragen aufwirft. Es gibt zwei Möglichkeiten: Entweder glauben die Politiker, dass die Märkte rational handeln, und nutzen das Vertrauensvotum der Märkte, um die Wirtschaft zu stützen, oder sie sind davon überzeugt, dass die Märkte irrational sind, und nutzen die sich daraus ergebenden, günstigen Finanzierungsmöglichkeiten, um die Wirtschaft mindestens so lange zu stützen, wie der Markt irrational bleibt. Was auch immer man von der Rationalität der Märkte hält: eine weitere Runde vorübergehender fiskalpolitischer Impulse scheint in jedem Fall die beste politische Entscheidung zu sein.
Dass die Fiskalpolitiker in den Kernländern des Euroraums, in Großbritannien und in den USA zu einem anderen Ergebnis kommen, ist insofern etwas verwirrend und trägt zu dem jüngsten Anstieg der Rezessionswahrscheinlichkeit in diesen Regionen bei. Grund für diese Verwirrung ist die Annahme, die politischen Verantwortungsträger würden schon rational auf das Marktumfeld reagieren, mit dem sie konfrontiert sind. Vielleicht ist aber gerade diese Annahme der irrationale Faktor in unserer eigenen Analyse.
Valentijn van Nieuwenhuijzen
Wer denkt hier irrational?
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